Junge, das Einzige, was wir noch haben, ist dein Kopf…. Erinnerung und Spurensuche
Die Biografie des Mediziners und medizinischen Forschers Rolf Rau, in der er die zurückliegenden acht Jahrzehnte seines Lebens beleuchtet, ist in mehrfacher Hinsicht ein Kleinod. Er schildert darin nicht nur seine individuellen herausfordernden Lebensumstände, nämlich Kindheit in Polen in den 1930-er Jahren, sehr früher Verlust des Vaters, Eliteschüler auf der nationalsozialistischen Kadettenanstalt NAPOLA, Flucht vor den Russen als Elfjähriger allein zu Fuß mit zwei Mitschülern im Winter1945, Schulzeit in der DDR, Studium der Medizin unter entbehrungsreichen Bedingung in Westberlin und andernorts, Beziehungs(liebes)leben, Laufbahn vom Medizinalassistenten zum Professor und international anerkannten Forscher im Bereich der Rheumatologie, – sondern stellt diese Lebensereignisse jeweils detailliert in den von ihm gesehenen historischen Kontext. Damit wird dieses Buch ein lebendiges Dokument der Zeitgeschichte.
Durch die Lektüre gewann ich anschauliche Einblicke in die Lebenssituation der deutschstämmigen Minderheit in Polen in den 30-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in die damaligen Konflikte zwischen Deutschen und Polen in dieser Region, in die Geschichte Polens und in die raschen Auswirkungen der Machtübernahme der Nazis in Westpolen z.B. auf das Schulsystem. Auch wenn diese Einblicke teilweise sehr subjektiv gefärbt scheinen, d.h. sich teilweise eher unkritisch gegenüber nationalsozialistischem Denken und Handeln positionieren, motivieren sie den Leser ungemein zur weiteren Auseinandersetzung mit der jüngeren und älteren Geschichte Polens und speziell der Geschichte zwischen Polen und Deutschland.
Die Schilderung der Schulzeit in der Nachkriegs-DDR mit ihren autoritären Strukturen, ihrer politischen Bevormundung und dem Denunziantentum zeigt am individuellen Beispiel bekannte repressive Strukturen des DDR-Systems auf. Auch das problematische Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland, das nach der Wende seinen Anfang nahm und bis heute andauert, wird am Beispiel der Geschichten von in Ostdeutschland verbliebenen Freunden anschaulich skizziert (Arroganz der „Besser-Wessis“).
Die folgenden, der medizinischen Arbeit gewidmeten Kapitel zeichnen zum einen den ehrgeizigen, zähen, erfolgreichen Weg vom Medizinalassistenten zum Chefarzt für Rheumatologie und Forscher in diesem Bereich nach, zum anderen, aber noch viel spannender, gewähren sie seltene aufschlussreiche Einblicke in die Praktiken der internationalen Pharmaforschung und die Methoden des Konkurrenzkampfes – vor allem zwischen den USA und Europa – auf diesem Gebiet. Darüber hinaus bilden diese Kapitel die Geschichte der Rheumatologie von ihren Anfängen in den 1960-er Jahren bis heute ab. Dies ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum dieses bemerkenswerte Buch in einem Medizinverlag erschienen ist.
Die Schilderung der langjährigen, äußerst erfolgreichen, international renommierten medizinischen Laufbahn beinhaltet aber auch noch ein interessantes psychologisches Moment. Rolf Rau schildert immer wieder, wie ihn seine ehrgeizigen Projekte mit Symptomen wie Schlafstörungen, Ängsten, Schweißausbrüchen etc über Jahrzehnte psychisch wie physisch unter Druck setzten und wie er auch zu Medikamenten griff, um seinen Leistungspegel hoch zu halten.
Was bringt einen Menschen dazu, sich so etwas anzutun? Der treffend gewählte Titel „Junge, das Einzige, was wir noch haben, ist dein Kopf“ bringt es auf den Punkt, der elfjährige Junge hat die Familie vor dem Untergang zu bewahren. Hier scheint es, dass sich diese Botschaft tief im Unterbewussten verankert und zu einem unendlichen Selbstbehauptungsvermögen allerdings mit gravierenden Erschöpfungseinbrüchen geführt hat. Heute bezeichnet man dieses Phänomen auch als Resilienz. Der Autor selbst vermeidet weitgehend die psychologische Selbstanalyse und sieht seine Aufgabe mehr darin, seinen jungen und alten Leserinnen und Lesern die jeweiligen historischen Zeitumstände nahe zu bringen.
Der Charme des Buches liegt nicht zuletzt in dem flüssigen, häufig gewitzten und selbstironischen Schreibstil und in der großen Anschaulichkeit, mit welcher der Autor Menschen, Landschaften, Begebenheiten und medizinische Sachverhalte beschreibt. Zusätzlich geben die Einblicke in sein (Liebes)beziehungsleben und die vielen tollen Fotos aus acht Jahrzehnten dem Buch eine Prise Würze. Parallel zu der beachtlichen beruflichen Lebensleistung ist das Buch auch ein eindrucksvolles Dokument für eine herausragende kommunikative Leistung und zwar sowohl im privaten familiären und freundschaftlichen als auch im beruflichen Kontext. Chapeau!